Marxdorf – „Mein Haus erzählt“

Projekt

Dem Team aus Marxdorf ist es ein Anliegen, dass alle Bewohner des Dorfes – Zugezogene und Alteingesessene – zusammenwachsen. Mehrfach musste die Jubiläumsfeier der Dorfgründung verschoben werden. Nun soll es zur 780-Jahrfeier soweit sein: Die Häuser von Marxdorf werden in einer Ausstellung ihre Geschichten erzählen. Für dieses Gemeinschftsvorhaben ist ein Fragenkatalog entwickelt worden, der dabei hilft, Erzählungen aus der Perspektive der Gebäude zu schreiben. Die erste beispielgebende Geschichte zeigt, wie es gehen soll.

Hintergrund
der Projektidee

Ausgangslage:

Marxdorf ist ein uraltes Dorf – im 21. Jahrhundert.

Hier gibt es Gebäude aus dem 13. Jahrhundert und Häuser von heute. Hier gibt es Alteingesessene und Zugezogene. Und hier haben in den letzten Jahrzehnten fast alle öffentlichen Orte, an denen man sich treffen konnte, geschlossen: die Schule und die Kita, die Geschäfte, die Gaststätten, der Schmied, der Friseur, der Schneider, der Konsum.

Wo kann man sich heute noch treffen? Wo ist Platz für dörflichen Zusammenhalt, wo für den täglichen Austausch? Die 780 Jahr-Feier steht vor der Tür, und wir fragen uns: Was können wir tun? Wie lernen sich die Marxdorfer neu und besser kennen? Wie wird Dorfgeschichte neu geschrieben? Wie erfahren wir etwas Spannendes über unser Dorf und seine Menschen?

Die Idee:

Das Projekt „Mein Haus erzählt“ gibt eine Antwort auf diese Fragen. Wir regen Marxdorferinnen und Marxdorfer an, ihr Haus zu befragen. Wann bist du gebaut, wer hat in dir gewohnt, was ist passiert – sind nur einige Fragen. Aus den Ergebnissen der Interviews schreiben wir die Geschichte vieler Häuser des Dorfes – jede einzelne ist spannend, auch die der erst kürzlich erbauten Häuser.

Als ‚Belohnung‘ für die Mühe bekommen die „Haus-Interviewer“ ein einzigartiges Geschenk: Ein besonderes Bild ihres Hauses, gemalt, gezeichnet oder in besonderer Form fotografiert. Es gibt im Dorf mehrere Künstlerinnen und Künstler, die wir für das Projekt gewinnen wollen. Die Bilder, die Geschichten, und auch besondere Fundstücke aus den Häusern werden zur 780 Jahr Feier in einer Ausstellung gezeigt. Die Ausstellung ist als eine wachsende angelegt: Wir wollen mehr und mehr Geschichten von Marxdorfer Häusern – und wir wollen, dass mehr und mehr Menschen mitmachen, Menschen, die schon lange hier wohnen und diejenigen, die erst vor wenigen Jahren den Weg nach Marxdorf gefunden haben.

Künstlerin: Maria Mähler
Künstlerin: Maria Mähler

Das Ziel:

„Dorfgeschichte aktivierend nutzen“ heißt die Parole: Wir wollen auf lebendige Art tief in die Geschichte des Dorfes eindringen. „Grabe vor deiner eigenen Haustür“ ist ein geschichtswissenschaftlicher Ansatz aus Skandinavien, der hier umgesetzt werden soll und der dem Ziel dient, einen Ort zusammen wachsen zu lassen. Wir verfolgen hier das Prinzip: Jedes Haus ist gleich wertvoll und interessant, der Neubau ebenso wie das Haus aus dem 19. Jahrhundert. Menschen beschäftigen sich mit ihrer direkten Umgebung, mit ihrem Wohnhaus, mit ihrer Nachbarschaft, sehen die vielen gewachsenen Schichten, mit denen sie normalerweise ganz unbewusst leben. Sie sehen die Verwurzelung des Hauses im Dorf und damit auch ihre eigenen Wurzeln.

Und sie tun das als Gemeinschaft im Austausch. Sie lernen sich und ihre Nachbarn besser kennen und identifizieren sich möglicherweise stärker mit dem Dorf. Das ist das, was wir erreichen wollen: Marxdorf wächst zusammen.


Beispieltext

Ich bin ein altes Haus

Ich bin ein altes Haus, im wahrsten Sinne des Wortes. Und deshalb habe ich auch ziemlich viele Erinnerungslücken. Aber manches haben die Leute aus der Nachbarschaft erzählen können, so dass ich mich jetzt an einiges wieder erinnern kann.

Ich liege mitten im Dorf, am größeren der beiden Dorfteiche. Ursprünglich wurde ich wohl als ein Haus für Landarbeiter gebaut, die auf den großen Vierseithöfen gearbeitet haben und eine Unterkunft für sich und ihre Familien brauchten. Ein Nachbar hat erzählt, dass ich das Arbeiterhaus vom Hof der Familie Schrape war, der einige Meter weiter an der Straße liegt.

Ganz links – Hellas Haus 1938. Quelle: Klaus Stieger (2005): Historische Ansichten aus dem Kreis Lebus 1857-1945, Findling Verlag, Werneuchen.

Als Indiz für mein Alter – sicher schon mehr als 130 Jahre – kann angesehen werden, dass bei einem Umbau Reste einer schwarzen Küche gefunden wurden, also einer Küche mit offenem Feuer. Solche Küchen hat es nur bis ins 19. Jahrhundert gegeben.

Ich wurde als ein Doppelhaus gebaut mit einem Felssteinsockel, meine Mauern bestehen aus zwei Ziegelschichten zwischen denen Luft die Einflüsse von außen dämmt. Klingt eigentlich ganz schön modern. Später wurde ich verputzt.

Zu mir gehört auch ein Stallgebäude, in dem Kaninchen und Hühner gehalten wurden und in dem sich oben ein Dachboden für Heu befand. Auch dieses Gebäude war als „Doppelhaus“ angelegt.

Zurück zum Wohnhaus: Es hatte vorn an jedem Ende einen Eingang, der in einen kleinen Flur führte. Darunter befand sich (und befindet sich heute noch) ein kleiner Kriechkeller zur Aufbewahrung von Eingemachtem und Vorräten.

Dahinter lag dann die Küche, daneben zwei kleine Räume für die Familie mit jeweils einem kleinen Fenster zur Straße und zum Hof. Für eine Familie mit Kindern und vielleicht noch einer Verwandten aus einer anderen Generation wie z.B. der Großmutter, nicht üppig, da musste man ziemlich zusammenrücken. Ich glaube, mich an viel Lärm zu erinnern: Manchmal Geschrei, manchmal Lachen, manchmal Weinen.

Im Laufe meines Lebens wurde ich mehrfach umgebaut. Die beiden Haushälften wurden wohl in den sechziger Jahren zusammengelegt zu einem Haus, die nördliche Küche wurde Bad und Toilette, der Raum davor „Zimmerchen“ Nr. 5.

In mir haben unterschiedliche Menschen gewohnt. Wer das vor 1945 war, kann ich nicht mehr sagen – hab ich vergessen, tut mir leid. Ab ca. 1945 wohnte in der südlichen Hälfte die Familie Hemmerling, die kriegsbedingt hier gelandet war. Sie erhielten später auch die zweite Haushälfte dazu und bauten mich zu einem Haus um. Anfang der neunziger Jahre mussten sie mich alters- und krankheitsbedingt verkaufen und zogen zu ihrer Tochter nach Diedersdorf.

Hella Dunger-Löper
Hellas Haus 2023. Foto: Hella Dunger-Löper

Die neue Familie Löperbaute mich ein weiteres Mal um, entfernte die Innenwände – aus vier kleinen Zimmern wurde ein großes – und baute das Dach aus. Das kam mir anfangs gar nicht gut vor: plötzlich so nackend, so entkernt, so groß und leer. Aber dann bekam ich neue große Fenster, und dachte anschließend: ist doch wirklich ganz schön, so luftig und großzügig zu sein.

A propos Dach: Es ist im zweiten Weltkrieg zerstört und zu DDR-Zeiten notdürftig mit Wellblechgiebeln wiederhergestellt worden. Ansonsten hatte ich aber keine großen Schäden. Bis die Waschbären kamen … Da musste im vergangenen Jahr alles noch einmal erneuert werden.

Zu mir gehört auch ein Grundstück, das als Garten und damit auch lange Zeit zur Selbstversorgung diente. Es gab, wie gesagt, einen Hühnerhof und Kaninchenställe, aber auch ausgedehnte Gemüsebeete, eine Spargelreihe, und viele Obstbäume und –sträucher, die z.T. bis heute vorhanden sind. Frau Hemmerling, die frühere Bewohnerin, galt im Dorf als Frau mit dem grünen Daumen. Sie hat Rosen im Vorgarten, auch zahlreiche Nadelbäume anpflanzt, die jetzt allerdings gefällt werden mussten, da ihre Standsicherheit nicht mehr gegeben war. Schade! Außerdem hat sie Obstbäume gepfropft – noch immer gibt es einen Birnbaum, der mehrere Sorten trägt.

Und obwohl ich ja wie gesagt ein altes Haus bin und still an meinem Teich liege, bin ich neugierig auf die Zukunft: Was wird in meinem Garten blühen, was werden meine Leute machen? Wie wird es uns alten Häusern im Dorf gehen? Und überhaupt: Wie wird sich Marxdorf entwickeln? Mal sehen, was die nächsten Jahre so bringen, mir altem Haus.

Hella Dunger-Löper

Künstlerin: Maria Mähler
Künstlerin: Maria Mähler

Fragenkatalog

Mein Haus erzählt

Stellen Sie sich vor: Sie machen mit ihrem Haus ein Interview. Was würde das Haus auf Ihre Fragen antworten? Antworten Sie also aus der Sicht Ihres Hauses.

Beispiel: Wann wurdest du gebaut? Ich wurde 1890 gebaut. Wer hat dich gebaut? Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, es war ein Bäckermeister namens Müller. (z.B.)

Nicht alle Fragen müssen beantwortet werden, sie sollen nur als Anregung dienen.

Wenn man etwas nicht ganz genau weiß, hilft es schon, wenn man schreibt, was man schätzt, denkt oder vermutet.

Den ausgefüllten Fragebogen schicken Sie bitte an: martina.ammer53@gmail.com

Einsendeschluss ist der 31.12.2023.


Intensivwerkstatt


Kontakt

Martina Ammer | martina.ammer53@gmail.com


Statements

Hella Dunger-Löper, Marxdorf

Die Workshops hier in Trebnitz waren für mich sehr wichtig, alle sechs Teile, um Ideen, die ich schon vorher hatte, neu zu sortieren, neu zu bewerten und auch Techniken zu lernen, diese Ideen in ein Projekt umzusetzen. Ich beschäftige mich schon fast mein ganzes Leben lang mit Geschichte, und zwar vor allem mit der Geschichte, die direkt vor meinen Füßen stattgefunden hat. Das ist etwas, das ich hochinteressant finde und von dem ich meine, dass es die Sicht auf das, was in Gegenwart und Zukunft ist, besonders prägen sollte.